Für die deutschen Leserinnen mag Lee Winter noch recht unbekannt sein. In den USA hingegen hat die australische Journalistin schon mehrere Auszeichnungen für ihre Romane erhalten. Mit der Veröffentlichung ihres neuen Romans „Requiem mit tödlicher Partitur“ (Originaltitel Requiem for Immortals) im November 2017 ist Lee Winter nun auch im deutschsprachigen Raum nicht länger eine unbekannte Persönlichkeit, denn dieser Roman ist etwas ganz besonderes.

In unserem Interview spricht Lee Winter über „Requiem mit tödlicher Partitur“, über ihren Schreibprozess und davon, wie das Foto einer australischen Schauspielerin die Idee zu diesem Roman entfacht hat.

 

Kannst du kurz erzählen, worum es in deinem Roman „Requiem mit tödlicher Partitur“ geht?

Als eine der angesehensten, australischen Cellistinnen – mit einer geheimen Identität als Auftragsmörderin – hält Natalya sich für unantastbar. Doch was passiert wohl, wenn sie beauftragt wird, eine Unschuldige zu töten? In meinem Roman geht es um die allmähliche Dekonstruktion ihres machtvollen Selbstbildes. Stück für Stück muss sie erkennen, dass sie nicht nur weniger unantastbar ist, als gedacht, sondern auch verletzlich in Konfrontation mit unerwarteten Gefühlen.

 

Obwohl der Roman dem bekannten Schema von Killer verliebt sich in sein Ziel und kann den Auftrag deshalb nicht mehr ausführenfolgt, ist dieses Buch mehr als nur“ ein Thriller. Und gleichzeitig ist es aber auch kein Liebesroman. Es geht es um Gefühle, aber auch um Macht und Kontrolle. Wie würdest du „Requiem mit tödlicher Partitur“ beschreiben? Was macht diesen Roman so besonders?

Er beschreibt die Entwicklung einer unnahbaren Assassine zurück zu einer gewöhnlichen Sterblichen. Zu Beginn tritt sie so selbstbewusst auf, so stark und in sich gefestigt. Sie ist davon überzeugt, dass sie so etwas Erbärmliches wie Mitmenschen oder Liebe nicht braucht. Sie lebt ausschließlich für Macht und Kontrolle. Die Loslösung von dieser Überzeugung macht den Roman so besonders. Requiem hätte nie erwartet, dass ihre Mauern durchbrochen werden könnten. Ich liebe es, wie es sie verängstigt, als ihre Barrikaden zu bröckeln beginnen und sie versucht, vor sich selbst zu leugnen, dass immer mehr Emotionen sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen.

 

Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden?

Durch eine Schauspielerin der australischen Version des Gefängnis-Dramas Wentworth namens Pamela Rabe. Ich habe zufällig ein Foto von ihr gesehen, auf dem sie in eine schwarze Jacke gekleidet ist, elegant an einer Wand anlehnt und zur Seite schaut. Ihre Körpergröße von 1,83 m lässt sie dabei imposant wirken. Ihr Gesichtsausdruck unter den langen, schwarzen Haaren hat mich fasziniert. Ich dachte: „Oh mein Gott, sie könnte jemanden ermorden, ohne mit der Wimper zu zucken. Und niemand würde sie jemals verdächtigen!“

Ich bin Pamela einige Male begegnet und in der Realität ist sie so liebenswürdig und hat keinen einzigen, gemeinen Knochen in sich. Aber in dem Moment, als ich diesen kühlen Blick sah, schossen mir unzählige Möglichkeiten durch den Kopf. Ich habe mir eine Auftragsmörderin mit ihrem Gesicht vorgestellt. Mein Verstand hat dann die Lücken gefüllt: Was würde sie tun und warum? So wurde Requiem geboren.

 

Natalya Tsvetnenko aka Requiem ist eine Auftragsmörderin. Das ist nicht gerade eine Figur, mit der man sich als Leserin leicht identifizieren kann – noch dazu, weil sie unnahbar ist und sich anderen Menschen mit ihren Schwächen gegenüber erhaben fühlt. Wie bist du auf die Idee gekommen, eine der beiden Hauptfiguren zu einer Assassine zu machen?

Ich weiß, dass niemand eine Mörderin lieben sollte und ich war besorgt, dass die Leser das auch nicht tun würden. Aber ich dachte: Was, wenn ich ihre äußeren Schichten langsam abstreifen und zeigen würde, dass sie keine Soziopathin ist. Stattdessen ist sie von Leuten, denen sie vertraut hat, dazu erzogen und trainiert worden, ihre Emotionen in sich zu vergraben, bis sie zu der arroganten Mörderin wurde, die uns im Roman zunächst begegnet. Ich habe gehofft, dass Leserinnen nach und nach anfangen würden, ihre menschliche Seite zu verstehen und zu lieben – so, wie ich es getan habe. Dass sie ihre Verletzlichkeit erkennen würden. Auch wenn sie tötet, beseitigt sie nur die Schlimmsten der Schlimmsten. Und ihre Taten sind definitiv nicht alles, was sie ausmacht.

 

Die eine Hauptfigur ist eine Killerin. Die andere, Alison Ryan, scheint das komplette Gegenteil davon zu sein. Was magst du an den Hauptfiguren deines Romans?

Sie ergänzen sich gegenseitig perfekt. Requiem ist auf der Hut vor anderen Auftragsmördern, vor Leuten wie sie selbst. Sie würde niemals erwarten, durch jemanden verwundbar zu werden, der so unschuldig ist. Alison kann selbst eine Auftragsmörderin dazu bringen, ihren Schutzpanzer abzulegen – indem sie einfach nur Alison ist. Und hinsichtlich Familie und Persönlichkeit sind die beiden sich sehr ähnlich, auch wenn das nicht von Anfang an offensichtlich ist. Sie verstehen einander auf eine Art, die man zunächst nicht für möglich hält.

 

Wie der Titel schon erahnen lässt, spielt klassische Musik eine wichtige Rolle in dem Buch. Nimmt sie auch eine wichtige Rolle in deinem Leben ein? Und hat sie dich beim Schreiben des Buches inspiriert?

Wenn es um Musik geht, bin ich ein ziemlich hoffnungsloser Fall. Ich gehöre zu den Menschen, über die Natalya/Requiem in meinem Buch schimpft: Diejenigen, die schöne Noten erkennen und es genießen, Musik zu hören – besonders klassische Musik – aber nicht von ihr auf eine ursprüngliche, alles verzehrende Art der Leidenschaft ergriffen werden, wie es für Requiem ist. Musik ist das Ventil ihrer Emotionen, da sie sich ihrer Gefühle in jedem anderen Teil des Lebens entsagt. Nicht einmal beim Sex erlaubt sie sich, etwas zu fühlen. Dieser ist für sie nur ein amüsantes Machtspiel.

Ich weiß Musik viel mehr zu schätzen, seit ich Requiem ‚getroffen‘ habe. Sie hat mich gewissermaßen gelehrt, die Musik auf tieferer Ebene fühlen zu können.

 

Warum spielt Natalya aka Requiem von all den möglichen Instrumenten ausgerechnet das Cello, nicht Violine oder Flöte?

Ich wollte ihr ein Instrument geben, das groß ist, eindringlich, imposant, kraftvoll und nicht einfach auszublenden. Genauso wie Requiem.

 

Wie lange hast du zum Schreiben dieses Buches gebraucht?

Vier Monate. Ich hab es geschrieben wie im Rausch. Es hat mich in jeder wachen Minute verzehrt. Ich habe von Requiem geträumt. Es war, als würde sie mir ihre Geschichte ins Ohr flüstern und ich habe sie stürmisch herunter geschrieben. Ich habe das Schreiben noch nie zuvor und nicht mehr seitdem auf diese Weise erlebt. Es hat sich angefühlt wie ein außergewöhnliches, persönliches Geschenk, das mir in Form einer Geschichte übergeben wurde. Ich konnte sie noch Monate, nachdem ich das Buch abgeschlossen hatte, nachts zu mir flüstern hören! Ich scherze gerne, dass ich Requiems Biografin bin.

 

War die Geschichte zu Beginn des Schreibens bereits fertig in deinem Kopf oder hat sie sich erst im Laufe des Schreibens entwickelt?

Ich habe die ganze Geschichte wie einen Film in meinem Kopf gesehen. Alles davon. Ich wusste, welche die ersten und letzten Zeilen (die sich sehr ähnlich sind) sein würden, bevor ich auch nur ein einziges Wort aufgeschrieben habe. Das einzige Problem, das sich mir gestellt hat, war die Perspektive. Einmal hatte ich ein ganzes Buch aus der Sicht von Requiem vor mir. Dann aus der von Alison. Letztlich habe ich beide Varianten zusammengebracht und daraus ergab sich die endgültige Version.

 

Die Wendungen in dem Roman sind nicht selten überraschend, ganz besonders das Ende lässt die Leserinnen staunen. Außerdem lässt es Raum, die Geschichte um Natalya und Alison Ryan weiterzudenken. Wird es irgendeine Art von Fortsetzung zu „Requiem mit tödlicher Partitur“ geben?

Es gibt eine Kurzgeschichte von 10.000 Wörtern, die „Requiem mit tödlicher Partitur“ fortsetzt. Sie ist gerade auf Englisch unter dem Titel „Love Is Not Nothing“ erschienen. Beschrieben wird darin ein einzelner Tag aus Requiems Leben, zwei Jahre nach dem Ende des Buches. Außerdem wird aufgeklärt, ob Requiem immer noch Menschen umbringt und was sie für Alison fühlt.  Ich bin mir nicht sicher, ob ich darüber hinaus noch etwas schreiben werde. Ich habe eine Idee für einen weiteren Roman, aber Requiem ist ein Charakter, der so emotional aufreibend zu schreiben ist, dass ich mich für mindestens ein Jahr nicht mehr an sie wagen werde. Ich schätze, es kommt ganz darauf an, ob sie wieder anfängt, mir zuzuflüstern!

 

Ylva Autorin Lee Winter ist eine preisgekrönte australische Zeitungsjournalistin, die auch für ihre Romane schon mehrere Auszeichnungen erhalten hat. Nachdem sie im Lauf ihres Berufslebens in fast allen australischen Bundesstaaten gewohnt hat, ist sie mittlerweile mit ihrer Partnerin in Westaustralien sesshaft geworden. Seit 2016 ist sie Vollzeitschriftellerin und Teilzeitlektorin. In ihrer Freizeit findet man sie entweder bei der Gartenarbeit, mit einer neuen technischen Spielerei in der Hand oder stirnrunzelnd vor dem Fernseher. 2017 wurde ihr Roman „Requiem mit tödlicher Partitur“ von uns ins Deutsche übersetzt.

Lee Winter über ihren Roman „Requiem mit tödlicher Partitur“
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One thought on “Lee Winter über ihren Roman „Requiem mit tödlicher Partitur“

  • 10. Juni 2018 um 20:34
    Permalink

    Toller Roman, spannend und fesselnd mit Suchtpotential. Ich hoffe, die Kurzgeschichte erscheint schnell auf Deutsch. Genauso wie weitere Romane. Bin schon ganz gespannt.

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