Der Coming-out-Tag am 11. Oktober veranlasste die französische lesbische Aktivistin Élie Chevillet, darüber nachzudenken, was das Coming-out als LGBTIQ heutzutage wirklich bedeutet – und was es mit Privilegien zu tun hat.

Obwohl ich öffentlich lesbisch bin, habe ich gemischte Gefühle gegenüber dem Coming-out-Tag. Sich zu outen bedeutet, das Schweigen zu brechen, und hinter diesem Schweigen steckt höchstwahrscheinlich Angst.

Diese Angst ist in der Cisheteronormativität verwurzelt, was bedeutet, dass von jeder Person erwartet wird, heterosexuell und cisgender zu sein. So können sich queere Menschen schnell anormal, ausgeschlossen und der Liebe unwürdig fühlen. Und da sie genauso dazugehören wollen, verstecken sie sich, um der Ablehnung von anderen zu entgehen.

In manchen Fällen ist Schweigen eine Überlebensfrage.

Out zu sein ist ein Privileg

Ein Coming-out wird oft mit Mut assoziiert. In unseren queeren Communities neigen wir dazu, es zu feiern und uns gegenseitig zu ermutigen, sichtbar zu sein. Aber für manche Personen bedeutet ein Coming-out, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen.

Ich kann meine Partnerin zu jedem Familientreffen mitbringen, meine Arbeit für die queere Community in meinem Lebenslauf erwähnen oder mich auf meinem öffentlichen Instagram-Account als lesbisch präsentieren – niemanden interessiert es. Out zu sein fühlt sich für mich ziemlich safe an. 

Das ist bei meiner Freundin Mariam nicht der Fall. Seitdem sie sich als lesbisch geoutet hat, versteckt sie sich vor ihrer Familie, weil sie sich nicht sicher fühlt. Meine Freundin lebt in der Angst, dass ihre Familie herausfinden könnte, wo sie lebt. Und so was geschieht in Deutschland.

Während wir die Sichtbarkeit feiern, die das Coming-out schafft, sollten wir uns bewusst sein, dass öffentlich queer zu leben ein Privileg ist. Wir sollten Menschen, die nicht out sind, niemals beschämen oder sie dazu drängen, das Schweigen zu brechen. Ein Coming-out ist eine persönliche Entscheidung – und es ist in Ordnung, sich dagegen zu entscheiden.

Es gibt nicht die eine Coming-out-Story

In meiner Firma wurden wir, queere Menschen, dazu eingeladen, am vergangenen 11. Oktober unsere „Coming-out-Story“ zu erzählen. In Wahrheit gibt es so etwas wie die eine Coming-out-Story nicht. Eine Person kann in ihren Communities out sein, aber nicht in der Familie; in der Familie, aber nicht im Büro.

Jede Person, die davon ausgeht, dass wir heterosexuell und cisgender sind, schafft einen weiteren Coming-out-Moment. Ihre cisheterosexuelle Annahme zwingt uns, uns entweder zu outen, zu lügen oder der Frage auszuweichen. Das Coming-out ist also eine unendliche Geschichte.

Als ich am Coming-out-Tag meines Unternehmens teilnahm, beschloss ich, das Bewusstsein für die Tatsache zu schärfen, dass Menschen nie nur einen einzigen Coming-out-Moment haben. Ich dachte an meine ersten Coming-out-Erfahrungen vor mehr als zwanzig Jahren zurück.

Queere Sichtbarkeit ist notwendig

Ich habe mich wieder an mein Coming-in – oder Coming-out vor mir selbst – erinnert, als ich vierzehn war und mir erlaubte, meine erste Freundin zu haben.

Als ich mich auf dieses Arbeitsevent vorbereitete, rief ich mir mein Coming-out vor meiner Mutter, meinen Brüdern und meinem Vater ins Gedächtnis zurück. Ich erinnerte mich daran, wie mich die heterosexuelle Annahme in der Arbeit belastete. Aber anstatt meine unzähligen Coming-out-Geschichten zu erzählen, nutzte ich die Gelegenheit, um zu erklären, warum queere Sichtbarkeit wichtig ist. 

Es ist eine Lüge, dass unsere queeren Leben niemanden etwas angehen. Das Intime ist politisch. Unsere LGBTIQ-Existenzen sind hochpolitisch. Und unsere Sichtbarkeit ist wichtig, denn was nicht sichtbar ist, existiert für andere nicht und wird daher stillschweigend diskriminiert.

Zurück zum gezwungenen Outing

Heute lebe ich überall öffentlich lesbisch, und ich will mich nie wieder verstecken. Meine befreundeten Personen sind entweder queer oder Allys. Meine Familie empfängt meine Partnerin mit offenen Armen, mein Vater sagt, dass er sich mich nicht mit einem Mann vorstellen kann. 

Ich bin überall out and proud, aber die heterosexuelle Annahme drängt mich in Outing-Situationen zurück. Ich bin nicht mehr die junge Lesbe voller verinnerlichter Homophobie, die ich einmal war, aber ich muss mich immer noch jedes Mal outen, wenn eine neue Person davon ausgeht, dass ich hetero bin. Und ich habe es satt.

Zusammen für eine Welt ohne Outing

Ob ihr nun queer seid oder nicht, seid feinfühlig. Geht nie davon aus, dass die Person, die ihr kennenlernt, heterosexuell oder cisgender ist. Falls ihr eure Beziehungspersonen erwähnt, benutzt eine geschlechtsneutrale Sprache, anstatt davon auszugehen, dass sie auf Männer oder Frauen steht.

Und nehmt nicht einfach an, dass diese Person ein Mann oder eine Frau ist. Teilt eure Pronomen, damit sich die Person sicher fühlt, und fragt sie, wie sie angesprochen werden möchte. 

Hört auf, Situationen zu schaffen, in denen wir uns gezwungen fühlen, uns zu outen.

Lasst uns eine Welt ohne Coming-out schaffen, in der wir keine Angst haben müssen, so zu sein, wie wir sind, und zu lieben, wen wir lieben.


Élie Chevillet ist eine französische lesbische Autorin und Aktivistin. Du findest weitere Blogbeiträge von Élie für den Ylva Verlag hier.

Folge Élie auf Instagram: @eliechevillet

Das Coming-out ist eine unendliche Geschichte

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